Um die wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie abzumildern, haben die Regierungen der USA, Japans und Westeuropas fast US$ 6 Bio. an Mitteln für Hilfs- und Konjunkturprogramme angekündigt. Gemessen an der Größe ihrer Volkswirtschaften sind diese zusätzlichen Ausgaben in Friedenszeiten beispiellos.
In den USA werden sich die bereits vom Kongress genehmigten US$ 2 Bio. und die zusätzlich anstehenden US$ 500 Mrd. auf 11,7 % des BIP belaufen, verglichen mit 15 % des BIP in Großbritannien, 15,5 % in Spanien und 18 % in Frankreich. Die angekündigten Hilfsmaßnahmen in Japan, Deutschland und Italien machen jeweils zwischen 19 % und 21 % des jeweiligen BIP aus.
Hinzu kommt, dass nicht nur diese Stimulierungsmaßnahmen, sondern auch die wahrscheinlich entgangenen Steuereinnahmen in Rechnung gestellt werden müssen. In vielen dieser Länder sanken die Steuereinnahmen während der globalen Finanzkrise um 4–6 % des BIP. Mit Ausnahme von Deutschland, das im vergangenen Jahr einen Haushaltsüberschuss von 2 % des BIP erzielte, wiesen zudem alle anderen Volkswirtschaften vor der Coronapandemie Haushaltsdefizite auf. In manchen Fällen handelte es sich um moderate Defizite, so in Italien, Spanien und Großbritannien (rund 2 % des BIP). Die Defizite in Italien und Japan lagen jedoch in einer Spanne von 5–6 % [CHECK].
Bedenkt man das Ausgangsniveau der Defizite, den Umfang der Konjunkturpakete und die Wahrscheinlichkeit stark rückläufiger Steuereinnahmen, ist es denkbar, dass die Haushaltsdefizite in den kommenden 12 Monaten auf 20-30 % des BIP anwachsen (Abbildung 1). Zwar könnte dieser Wert bei einer kräftigen Erholung der Wirtschaft geringer ausfallen. Wenn sich jedoch die Erholung länger hinziehen sollte und zusätzliche konjunkturstützende Mittel aufgebracht werden müssen, könnten die Haushaltsdefizite zunehmen.
Einstweilen sieht es danach aus, als würden sich die Rentenmärkte auf eine Flut neuer Staatsanleiheemissionen vorbereiten. Überraschend ist, dass Anleger von Rententiteln auf die Aussicht von – für Friedenszeiten – beispiellosen Haushaltsdefiziten mit Kauflust reagieren, sodass die langfristigen Renditen an den meisten Anleihemärkten auf Rekordtief oder nicht unweit davon liegen (Abbildung 2). Dafür gibt es mehrere Erklärungen:
Doch auch die Zinsen der längsten Fälligkeiten verharren auf niedrigem Niveau und die Zinskurven bleiben im historischen Vergleich bemerkenswert flach. Könnten solch deutliche Haushaltsdefizite schließlich doch höhere langfristige Anleiherenditen zur Folge haben?
Dank der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) haben Investoren Zugang zu historischen Daten über die Bereitstellung von Kreditmitteln für den nichtfinanziellen Sektor. Für die meisten Länder reichen die Daten mindestens bis zum Jahr 2000 zurück, für einige andere noch viel weiter. Für Australien, Kanada und Südkorea reichen diese Zahlen bis in die späten 1980er und frühen 1990er Jahre zurück. Die Daten für Japan liegen seit dem Jahr 1980 vor. Für die USA gibt es derartige Datenreihen seit den frühen 1950er Jahren.
Unter Einbeziehung der weitläufig zugänglichen Zahlen über kurz- und langfristige Zinsen in diesen Ländern/Währungsräumen offenbaren die Daten der BIZ ein interessantes Schuldenparadoxon. In nahezu allen Märkten ist – bei sonst gleichen Bedingungen – ein höheres Angebot gleichbedeutend mit niedrigeren Preisen. Ließe sich diese Gleichung auf den Rentenmarkt übertragen, dann müsste ein höheres Angebot an Schuldtiteln zu niedrigeren Kursen und somit zu höheren Renditen führen, da sich Anleiherenditen umgekehrt zum Preis bewegen.
Sonderbarerweise scheint sich diese Beziehung in Rentenmärkten umzukehren. Historisch betrachtet scheint ein höheres Angebot an Schuldtiteln Anleihekurse in die Höhe zu treiben und damit das durchschnittliche Niveau kurzfristiger Zinsen und langfristiger Anleiherenditen zu senken. Betrachten wir einmal Japan. Früher als jedes andere Land erreichte Japan ein äußerst hohes Schuldenniveau. Ebenso näherte sich das Land kurzfristigen Zinsen von fast null Prozent ein Jahrzehnt vor dem Rest der Welt an (Ende 1998 statt erst Ende 2008). In Japan ist eine ausgeprägte inverse Beziehung zwischen der Gesamtverschuldung (Staat + private Haushalte + Nicht-Finanzunternehmen) und der Höhe kurzfristiger Zinsen sowie der Renditen für längere Laufzeiten zu erkennen (Abbildung 3).
Ähnliche Zusammenhänge sind auch in den USA (Abbildung 4) und in jedem anderen entwickelten Währungsraum erkennbar. Abbildung 5 stellt für 12 Währungen die zeitliche Korrelation zwischen der Gesamtverschuldung einerseits sowie den kurzfristigen Zinsen und langfristigen Anleiherenditen andererseits dar.
In jedem der 12 Währungsräume ist das Durchschnittsniveau der kurzfristigen Zinsen umso niedriger, je höher die Gesamtverschuldung ist. Bemerkenswert ist auch, dass in elf der 12 Währungsräume die Korrelation für langfristige Zinsen negativer ausfiel als für kurzfristige Zinsen (Abbildung 5). Für andere Länder entnehmen Sie dem Anhang mit Abbildung 3 und 4 vergleichbare Schaubilder.
Man hätte das Gegenteil erwarten können. Im Falle übermäßiger Verschuldungsniveaus können Zentralbanken den Leitzins senken, um es dem Staat, Privathaushalten und Unternehmen leichter zu machen, ihre Schulden zu bedienen. Was also hält die langfristigen Zinsen bei einem enorm gestiegenen Angebot an Schuldtiteln dennoch niedrig?
Was die kurzfristigen Zinsen betrifft, ist das Rätsel leicht gelöst, die längerfristigen Zinsen hingegen sind für die Zentralbanken schwieriger zu beeinflussen. Einige Zentralbanken, darunter auch die Bank von Japan, haben erklärtermaßen auf Zielvorgaben gesetzt und kontrollierend in die Renditekurve eingegriffen: Sie haben Obergrenzen für Renditen verschiedener Laufzeiten festgelegt, um eine positiv geneigte Renditekurve herbeizuführen, und so viele Anleihen wie nötig angekauft, um eine weitere, unerwünschte Versteilerung der Zinskurve zu verhindern. Andere Zentralbanken wie die US-Notenbank Fed und die Bank of England haben sich für den sporadische Ankauf langfristiger Schuldtitel entschieden, um die längerfristigen Zinsen auf ein niedrigeres Niveau zu senken, als sonst zu erwarten gewesen wäre – ohne dabei ausdrückliche Zielvorgaben zu setzen.
Trotz der Zentralbankkäufe und der hohen Wahrscheinlichkeit erneuter quantitativer Lockerungsmaßnahmen in den USA, Europa und Japan ist davon auszugehen, dass nicht alle zusätzlich emittierten öffentlichen Schuldtitel von Zentralbanken aufgekauft werden. Es mag durchaus sein, dass Rentenanleger das zusätzliche Anleiheangebot bereitwillig zu hohen Kursen/niedrigen Renditen absorbieren, weil sie damit rechnen, dass ein hohes Verschuldungsniveau ihre Zentralbanken dazu zwingt, den Leitzins für geraume Zeit niedrig zu halten. Ferner befürchten nur wenige Marktteilnehmer, dass eine Inflation unmittelbar bevorsteht oder auch nur langfristig zurückkehren könnte. Daher ist der Anreiz gering, höhere Renditen für ein größeres Durationsrisikos zu verlangen. Vielmehr gilt die Sorge in den nächsten 12 Monaten oder so einer möglichen handfesten Deflation. Bevor Inflation wieder auf den Plan tritt, werden viele Jahre vergehen, wenn nicht sogar ein Jahrzehnt oder mehr.
Dennoch ist es angesichts der extrem expansiven Fiskal- und Geldpolitik auffallend, wie flach die Renditekurven in den USA und anderswo nach wie vor verlaufen. Am Ende früherer Lockerungszyklen der Fed in den Jahren 1992, 2003 und 2009 lagen die Renditen langfristiger Anleihen 300–500 Basispunkte über den kurzfristigen Zinsen (Abbildung 6). Heute sind diese Renditen kaum 100 Basispunkte höher als die kurzfristigen Zinsen – und das trotz eines US-Haushaltsdefizits, das 2,5 Mal so hoch sein dürfte wie 2009 und etwa 5–6 Mal so hoch wie 1991 oder 2002 (Abbildung 7).
Zu guter Letzt sind die BIZ-Daten in die Kategorien Staatsschulden, Schulden privater Haushalte und Schulden von Nicht-Finanzunternehmen aufgegliedert. Ist eine der Kategorien wichtiger als die anderen? Sind z. B. Zentralbanken/langfristig orientierte Anleiheinvestoren dem Verschuldungsniveau eines Staates besonders stark ausgesetzt, dem von Privathaushalten und Unternehmen hingegen weniger? Die Beweislage deutet darauf hin, dass Anleger in erster Linie die Gesamtverschuldung im Auge haben (Abbildungen 8 und 9).
In einigen Ländern ist die Korrelation zwischen kurz- und langfristigen Zinsen und der jeweiligen Schuldenkategorie niedrig oder sogar positiv. So korreliert die Höhe der Staatsverschuldung in Schweden und der Schweiz positiv mit dem Zinsniveau. In diesen beiden Staaten ist die Staatsverschuldung jedoch sehr gering: 35 % des BIP in Schweden und 27 % in der Schweiz. Demgegenüber weisen beide Staaten eine extrem hohe Verschuldung des privaten Sektors auf: 255 % des BIP in Schweden und 253 % in der Schweiz. Tatsächlich ist in fast allen Ländern die stärkste negative Korrelation zwischen Verschuldung und kurz- oder langfristigem Zinsniveau beim größten Anleiheemittenten zu verzeichnen. So weist die Verschuldung der Privathaushalte in Australien und Kanada, wo das Verschuldungsniveau der Privathaushalte extrem hoch ist, die stärkste negative Korrelation mit dem Zinsniveau auf. In Japan scheint die hohe Staatsverschuldung (>200 % des BIP) den Anlegern und der Zentralbank am meisten Sorge zu bereiten, und in Europa sind es die Staatsschulden und die Schulden der Nicht-Finanzunternehmen In den USA fallen alle Kategorien von Schuldnern ins Gewicht. Doch allenthalben ist die Gesamtverschuldung wichtiger als jede ihrer Unterkategorien.
Anleger sollten noch einen weiteren Aspekt der gegenwärtigen Lage in Betracht ziehen. Die Coronapandemie hat die Zentralbanken zu einem Experiment mit der Modernen Geldtheorie (MMT) veranlasst, bei dem Fiskal- und Geldpolitik miteinander verschmelzen (siehe unser Paper). Bei hoher Arbeitslosigkeit und beträchtlicher Unterauslastung wirtschaftlicher Ressourcen scheint auf kurze Sicht kaum ein Risiko zu bestehen, dass der Ankauf von Staatsanleihen in großem Umfang eine Inflation auslösen wird. Im bevorstehenden Jahr gilt die Hauptsorge der Deflation, so lange bis sich die Wirtschaft zu erholen beginnt und die Arbeitslosigkeit merklich zurückgeht. Langfristig jedoch könnte der MMT-Kurs eine Inflation bewirken, sollte er nicht zurückgefahren werden, wenn die Beschäftigung wieder auf ihr früheres Niveau steigt und der Anteil nicht genutzter Ressourcen auf ein niedriges Niveau sinkt. Wie viel Zeit eine derartige Entwicklung in Anspruch nehmen wird, hängt von dem Erfolg der Bemühungen um konjunkturellen Aufschwung/Erholung sowie vom Verlauf der Pandemie ab.
Auch sollten Anleger den Komponenten des Verschuldungsgrades Aufmerksamkeit schenken:
Verschuldungsgrad =
Anfangsniveau der Verschuldung / BIP + Neuverschuldung / BIP
(1 + reales Wachstum)(1+ Inflation)
Maßnahmen, die das reale Wachstum oder die Inflation (oder beides) ankurbeln, sodass der Nenner der Gleichung schneller zunimmt als der Zähler, können den Verschuldungsgrad verringern. Die von der MMT verfolgte Linie oder andere wirtschaftspolitische Maßnahmen, die durch starkes reales Wachstum oder höhere Inflation ein starkes Wachstum des nominalen BIP bewirken, könnten das Tor zu höheren Zinsen und steigenden langfristigen Anleiherenditen aufstoßen.
Alle in diesem Bericht dargestellten Beispiele sind hypothetische Interpretationen und werden nur zu Erläuterungszwecken verwendet. Die in diesem Bericht dargestellten Sichtweisen sind ausschließlich die Meinung des Autors, nicht notwendigerweise der CME Group oder ihrer verbundenen Unternehmen. Dieser Bericht und die darin enthaltenen Informationen sind nicht als Anlageberatung oder als Ergebnis tatsächlicher Markterfahrungen aufzufassen.
Erik Norland ist Executive Director und Senior Economist der CME Group und somit für die wirtschaftlichen Analysen der globalen Finanzmärkte verantwortlich. Dabei identifiziert er aufkommende Trends, bewertet wirtschaftliche Faktoren und prognostiziert deren Auswirkungen auf die CME Group und ihre Geschäftsstrategie sowie auf die Anleger, die an den verschiedenen Märkten des Unternehmens handeln. Er ist außerdem einer der Sprecher der CME Group für Themen, die die globale wirtschaftliche, finanzielle und geopolitische Lage betreffen.
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